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Anna-Katharina Seidler (1890-1954) In der ersten Ehe: Bomm, in der zweiten Ehe Werle

Anna-Katharina Seidler (1890–1954)

Geschrieben von Willi Bomm aus Georgsmarienhütte am .

Meine Oma wurde 1890 in Kronental (Deutsch-Chaginsk), einer deutschen Kolonie im Gebiet Stawropol geboren. Ihre Eltern Ludwig und Anne-Susanne Seidler (geb. Haupt) verloren nacheinander ihre Söhne, daher war die Tochter die einzige Hoffnung der beiden. Dadurch war die Kindheit von Anna-Katharina betrübt, aber gleichzeitig waren es auch fast die einzigen glücklichen Jahre in ihrem Leben.


Anna-Katharina Seidler (1890-1954) In der ersten Ehe: Bomm, in der zweiten Ehe Werle
Anna-Katharina Seidler (1890–1954)

Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Dorf Blumenfeld / Zwetopol, Kreis Slawgorod, Region Altai

Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Dorf Blumenfeld / Zwetopol, Kreis Slawgorod, Region Altai

1907 heiratete Anna-Katharina Friedrich Bomm und sie bekamen drei Kinder. 1912 entschied sich die junge Familie, ihr Glück in Sibirien zu suchen. Zu dem Zeitpunkt war Anna-Katharina mit dem vierten Kind schwanger. Da sie die einzige noch lebende Tochter der Seidlers war, beschlossen auch ihre Eltern, mit den verwaisten Enkelkindern nach Sibirien mitzukommen. So gehörten die Familien Bomm und Seidler zu den 34 Gründer-Familien des Dorfes Blumenfeld (später Zwetopol) in der Region Altai.

Das Kapital von Katharinas Vater half der jungen Familie Bomm, innerhalb von kürzester Zeit (1912-14) ein Haus zu bauen, das Land zu bestellen und eine Ölmühle zu betreiben. Nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges war Katharinas Mann Friedrich unter den ersten, die an die Westfront mobilisiert wurden. Und wieder war Katharina schwanger und musste zusehen, dass der Hof auch ohne Ehemann weitergeführt wurde.

Am 23.02.1915, dem Tag an dem Katharina ihr fünftes Kind zur Welt brachte, erlag Friedrich in einem Militärhospital in Kiew seinen Verletzungen. So wurde Katharina kurz vor ihrem 25. Geburtstag zur Witwe. Finanziell ging es der Familie trotz allem nicht schlecht: stabile Wirtschaft, Unterstützung der Eltern und Witwenrente der Zarenregierung ließen die Familie nicht leiden.

Wie es damals in den Bauernfamilien üblich war, heiratete Katharina noch im selben Jahr gegen den Willen der Eltern ihren Nachbarn Emanuel Werle. Doch auch der zwei Jahre jüngere Ehemann wurde 1916 zum Krieg eingezogen und die wieder schwangere Katharina blieb mit dem Säugling zurück. Als Emanuel im Frühjahr 1918 von der türkischen Front nach Hause zurückkehrte, musste Katharina ihm mitteilen, dass ihre beiden gemeinsamen Söhne den Winter 1917 nicht überlebt hatten. Auch der Sohn Emanuel aus der ersten Ehe starb 1918.

Die Entbehrungen der Revolutionszeit trug Katharina überwiegend alleine, da ihr Ehemann seit 1919 im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten Armee kämpfte. Erst Ende 1921 wurde er endlich aus der Armee entlassen und kam ins Dorf zurück. Jetzt fing das Leben des immer noch jungen Paares erst an. Zwischen 1922 und 1925 bekamen sie drei weitere Kinder. Lenins Neue Ökonomische Politik (НЕП/NÖP) von 1921 bis 1928 ermöglichte es kleinen Privatunternehmen, gewinnorientiert zu arbeiten. Die Werles verdienten mit dem Verkauf des Leindotteröls in ihrer Ölmühle etwas Geld, kauften sich einen Separator (Dekantierzentrifuge), den das halbe Dorf unentgeltlich nutzen durfte. Statt Geld nahm Emanuel für die Nutzung des Separators einmal im Monat die Sahne des Tages für sich ab. Bei 10 bis 15 Nutzern waren das etwa 10 bis 15 Liter Sahne, die Emanuel im Monat bekam, die dann zu Butter verarbeitet und verkauft wurden. Allerdings wurde die Sahne später zu seinem Verhängnis, das er mit seinem Leben bezahlen sollte.

1929 riefen die Bolschewiken die Kollektivierung in der UdSSR aus: Das Privateigentum (Vieh, Grundstücke, Landmaschinen usw.) der Bauern wurde verstaatlicht. Im Dorf Zwetopol wurden zwei Kolchosen gegründet und die Familie Werle trat der Karl-Marx-Kolchose „freiwillig“ bei. Doch die Kolchosen waren ein wirtschaftliches Desaster, die Dorfbewohner versuchten auszuwandern oder verließen die Kolchose. Die Kommunisten suchten nach „Schuldigen“, die die Kolchosen „sabotiert“ hätten und wurden fündig: die „Kulaken“, die reichen Bauer. Auf einer Versammlung des Armutskomitees der Kolchose 1933 wurde Emanuel Werle vorgeworfen, dass er “bei der Heuernte zu wenig Heu abgemäht hätte, die zur Emigration der Dorfbewohner führte. Außerdem hätte er mit seinem Separator „die Knechte im Dorf ausgebeutet“1.

Emanuel Werle wurde wörtlich „als entlarvter Kulak, getarnter Ausbeuter der armen und mittleren Schichten, der sich an Spekulationen, Ausbeutung durch Separatoren und Profitmacherei auf Kosten der armen und mittleren Schichten beteiligte und 1932 Sabotageakte in der Kolchose und auch bei der Heuernte verübte, die 1931 zum Tod der Pferde führten“2, dargestellt. Und weiter beschloss das „Armutskomitee“, „um zu verhindern, dass die Situation, die er in unserer Kolchose herbeigeführt hat, noch schlimmer wird, dem Bürger Werle Emanuel das Stimm- und Wahlrecht zu entziehen und die Sowjet- und Parteiorgane aufzufordern, den Beschluss zu seiner Deportation aus dem Kreis zu billigen.“3

Die Entziehung des Stimm- und Wahlrechts machte den Betroffenen „vogelfrei“: Er verlor nicht nur seine Bürgerrechte, sondern auch jede wirtschaftliche Existenzmöglichkeit. Emanuel wurde samt der Familie aus der Kolchose ausgeschlossen und sie alle erwartete die Deportation in den Norden.

Doch die Geheimpolizei kürzte die Entscheidung des „Armutskomitee“ ab und verhaftete 1933 Emanuel, womit seiner Familie die Deportation erspart blieb.

Mit 43 Jahren blieb Anna-Katharina erneut mit drei kleinen Kindern und ohne jegliche finanzielle Unterstützung alleine zurück. Während Emanuel im Gefängnis saß, kämpfte seine Frau um die Erlaubnis, in die Kolchose aufgenommen zu werden, was die einzige Möglichkeit zum Überleben darstellte. Doch die Sowjet- und Parteiorgane schlugen zwei Jahre alle ihre Bitten aus.

Selbst als die ganze Kolchose, 83 Mitglieder, sich für Anna-Katharina vor der Kreisparteiverwaltung verbürgte und 1935 zustimmte, die Eheleute in die Kolchose neu aufzunehmen, musste die Frau weiter für ihre Rechte und die ihres Mannes vor dem Dorfrat und der Kreisverwaltung kämpfen.

So schrieb Anna-Katherina im Juli 1936 eine Petition an den Vorstand der Karl-Marx-Kolchose - ein Hilferuf:

An den Vorstand der landwirtschaftlichen Genossenschaft K. Marx.

Von Bürgerin Werle Katerina Ludwigowna.

Erklärung

Ich wende mich an den Vorstand und an die Kolchosbauern der Kolchose K. Marx, damit sie mir helfen, die Wiederherstellung meiner Rechte als Sowjetbürger zu beantragen und mich als Mitglied der Kolchose zu akzeptieren, damit ich und mein Mann die notwendigen Dokumente erhalten, um existieren zu können und in die heimatliche Kolchose zurückzukehren.

Ich hoffe, dass mein Antrag nicht abgelehnt wird, denn jeder weiß, dass die konkreten Täter, die für die Zerstörung der Kolchose verantwortlich sind, untergetaucht und ungestraft geblieben sind, und dass mein Mann durch falsche Zeugenaussagen angegriffen und falscher Verbrechen beschuldigt wurde, die er angeblich begangen habe.

Ich flehe sie an, meiner Bitte zu entsprechen.

8. Juni 1936

Dazu Katerina Werle (Text auf Russisch)
Die Bittschrift von Anna-Katharina an die Leitung der Karl-Marx-Kolchose 8.Juni 1936. Sie wurde in ihrem Namen geschrieben da Anna-Katharina zu der Zeit kaum Russisch sprach.
  • Die Bittschrift von Anna-Katharina an die Leitung der Karl-Marx-Kolchose 8.Juni 1936. Sie wurde in ihrem Namen geschrieben da Anna-Katharina zu der Zeit kaum Russisch sprach.
Eheleute Emanuel und Anna-Katharina Werle mit Enkelkindern 1931
  • Entscheidung des Kreisexecutivkomitee von Slawgorod über die Wiederaufnahme der Bürgerrechte für Eheleute Werle, 1936

Die Dorfverwaltung stimmte zwar am 29. Juni 1936 zu, die Kreisverwaltung lehnte aber ab. Anna-Katharina war verzweifelt. Allein, ohne Ehemann, mit drei Kindern hatte sie so gut wie keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wenn vor der Kollektivierung 1928 ihr Bauernhof 988 Rubel abwarf, hatte sie 1930 nur noch 30 Rubel zum Überleben. Ihr einziger Lebensunterhalt im Sommer 1936 waren ihr Gemüsegarten und eine Kuh. Die meisten ihrer Verwandten hatten Zwetopol verlassen, und auch der Rest der Familie kämpfte darum, um über die Runden zu kommen. Es gab somit keine Hilfe.

Am 10. Oktober 1936 gab die Kreisverwaltung Katharinas Bitte endlich nach, doch es dauerte noch bis Februar 1938, bis Emanuel endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Die Freude über die Entlassung des Ehemannes blieb jedoch sehr kurz. Das war die Zeit des „Großen Terrors“ von Stalin, in denen Millionen von unschuldigen Sowjetbürgern zum Opfer der Stalinistischen Säuberungen wurden. Nur vier Monate später, am 5. Juni 1938, wurde Emanuel direkt bei der Arbeit auf dem Feld verhaftet und ins Gefängnis nach Slawgorod gebracht.

Am 27. August 1938, nach zweieinhalbmonatigen Verhören und Folter, gab er seine nicht vorhandene "Schuld" zu und wurde zusammen mit fünf anderen Dorfbewohnern von der Troika des NKWD für „konterrevolutionäre Tätigkeit“ verurteilt. In der von den NKWD-Henkern fabrizierten Anklage stand, dass die sechs kaum gebildeten Bauern angeblich "an einer konterrevolutionären Spionage- und Sabotagegruppe teilgenommen, antisowjetische Agitation unter der Bevölkerung betrieben, die Kolchosbauern zum Verlassen der Kolchosen aufgerufen, einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht im Falle eines Krieges mit Deutschland vorbereitet und Informationen mit spionagehaftem Charakter gesammelt haben"4. Drei angebliche „Mitglieder“ der nichtexistenten Organisation wurden erschossen, während Emanuel zusammen mit seiner Schwester Alvina Werle zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Einige Jahre später, während des Krieges, erhielt Anna-Katharina einen Brief von ihrem Ehemann, indem er sie bat, ihm Lebensmittel in das Lager zu schicken: "Sonst werde ich sterben...". Der letzte Brief kam 1941 aus dem Fernen Osten und es gab keine weiteren Briefe von ihm. Erst 2012, fast 75 Jahre später, erfuhren die Nachkommen nach jahrelangen Anfragen in Archiven des Gulags, dass Emanuel Emanuilowitsch Werle am 27. Juni 1942 im Lagerkrankenhaus in Bolen (Станция Болен), Chabarow Region, gestorben war und nicht einmal die Hälfte der Haftzeit überlebt hatte. Doch meine Oma hatte auf ihn bis zu ihrem Lebensende gewartet.

Doch wie bei so vielen Russlanddeutschen Frauen blieb der Ehemann nicht der einzige, den Anna-Katharina aus dem Lager erwartet hatte. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden sechs von sieben Kindern von Anna-Katharina in verschiedene Arbeitslager in der ganzen Sowjetunion verschleppt: Johann und Rudolf Bomm kamen in das Arbeitslager nach Tula; Mathilda Bomm wurde mit ihrer Familie nach Kasachstan deportiert; Katharina Werle kam ins Arbeitslager nach Tatarstan; Emanuel Werle Junior (1925) kam in die Untertage nach Angero-Sudschensk, Gebiet Kemerowo; Lidia Werle musste ihr zweijähriges Kind in die Obhut von Anna-Katharina übergeben, bei der sie wohnte, und wurde nach Ural, in ein Lager in Nischni Tagil geschickt. Das war umso tragischer, da selbst nach den NKWD-Anweisungen, die Mütter der unter Dreijährigen nicht mobilisiert werden sollten. Der Ehemann von Lidia war bereits für den Versuch, aus dem Arbeitslager zu fliehen, ins Gefängnis gekommen. Aber nichts hat geholfen: Das NKWD benötigte 1943 Nachschub für die Arbeitslager und holte den letzten Rest aus den Dörfern der Russlanddeutschen: die Kranken, die Kinder, oft unter 14 Jahren, oder wie in diesem Fall junge Mütter. Nur die Tochter Luisa Bomm, die im eigenen Haushalt lebte, konnte dem Arbeitslager entkommen, weil sie ein kleines Kind unter 3 Jahren hatte.

Den Krieg verbrachte Anna-Katharina in Zwetopol. Um zu überleben, arbeitete sie in der Kolchose und half ihren zahlreichen zurückgelassenen Enkelkindern zu überleben, da die Eltern alle in Lagern waren. Und sie wartete. Als erster kam 1945 der Schwiegersohn Gustav Seel zurück, 1949 kam Tochter Lidia nach „nur“ sieben Jahren Trennung von ihrem Sohn und ihrer Mutter. Währenddessen wartete Anna-Katharina weiter: Monate, Jahre, Jahrzehnte.

1953, 8 Jahre nach dem Ende des Krieges und elf Jahre nach der Verschleppung, wartete die inzwischen 63-jährige Anna-Katharina immer noch auf das Wiedersehen mit den Kindern, die weiterhin die Zwangsarbeit in den Sondersiedlungen von Tula bis nach Kemerowo-Gebiet verrichteten. Sohn Emanuel bettelte 1953 die Lagerleitung des Bergbaubetriebs an, ihm einen Heimaturlaub zu geben: „Meine Mutter ist alt und krank, ich war seit 1942 noch nie zuhause“5. Endlich bekam er die Erlaubnis, seine Mutter für zehn Tage zu besuchen, sein Begleitschein war bis zum 28 Februar 1954 ausgestellt. Nach zwölf Jahren Trennung fielen sich Mutter und Sohn endlich in die Arme, zwei Tage nach dem Abschied von ihrem Sohn starb Anna-Katharina am 28. Februar 1954 in Zwetopol, ohne ihre weiteren vier Kinder nochmal gesehen zu haben.


1Aus den Verhörprotokollen der NKWD
2Aus den Verhörprotokollen der NKWD
3Aus dem Protokoll der Armutskomitee -Versammlung
4Aus den Verhörprotokollen der NKWD
5 Aus der Akte des Sondersiedlers Emanuel Emanuilowitsch Werle


Eintrag im Kichenbuch von Kronental über die Trauung von Friedrich Bomm und Anna-Katharina Seidler am 15. April 1907
  • Eintrag im Kichenbuch von Kronental über die Trauung von Friedrich Bomm und Anna-Katharina Seidler am 15. April 1907
Eheleute Emanuel und Anna-Katharina Werle mit Enkelkindern 1931
  • Eheleute Emanuel und Anna-Katharina Werle mit Enkelkindern 1931
Anna-Kathaina in der Mitte im Kreise ihrer Kinder und Enkelkinder die zu der Zeit nicht im Lager waren September 1951
  • Anna-Kathaina in der Mitte im Kreise ihrer Kinder und Enkelkinder die zu der Zeit nicht im Lager waren September 1951
Zur Erinnerung an den Tag der Konfirmation, Betshaus Deutsch-Chaginsk-Kronental, 10. April 1905
  • Zur Erinnerung an den Tag der Konfirmation, Betshaus Deutsch-Chaginsk-Kronental, 10. April 1905
Einkommensverhaltnisse der Familie Werle: Der Vergleich vor 1928 und nachher zeigt die Folgen der Enteignung durch Kollektivierung. Das Einkommen der Familie schrumpfte von 988 auf 30 Rubel.
  • Einkommensverhaltnisse der Familie Werle: Der Vergleich vor 1928 und nachher zeigt die Folgen der Enteignung durch Kollektivierung. Das Einkommen der Familie schrumpfte von 988 auf 30 Rubel.



Willi Bomm

mit dem Foto seiner Großmutter Anna-Katharina Seidler

Willi Bomm mit dem Foto seiner Großmutter Anna-Katharina Seidler




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