Emilia Michel (1930-2002)
Meine Mutter ist in Ährenfeld im Gebiet Saratow geboren und hatte drei Geschwister. Ihr Vater, Johann Michel, kam auch aus Ährenfeld, er hatte sogar eine Geburtsurkunde auf Deutsch. Familie Michel hatte in Ährenfeld ein schönes Leben mit einem Haus und schönem Obstgarten, großem Stall mit Vieh. Sie konnten nur Deutsch sprechen. Meine Mutter besuchte 2 Klassen auf Deutsch. Als der Krieg begann, musste die Familie über Nacht alles stehen und liegen lassen und mit einer Tasche Privatsachen wurden sie nach Sibirien vertrieben. Das Haus, Vieh und Möbel mussten sie zurücklassen.
Emilia Michel (1930-2002)
Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Ährenfeld, Autonome Republik der Wolgadeutschen
Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Dorf Michajlowka, Kreis Burla, Altaj Region
In Sibirien, im Dorf Michajlowka (Kreis Burla), angekommen, wurden sie in einer Familie aufgenommen. Sie konnten kein Wort Russisch sprechen. Meine Mutter war erst 11 Jahre alt und die Geschwister waren noch jünger. Meine Mutter musste auf das Baby aufpassen, da die Oma Paulina in der Kolchose arbeiten musste. Ab und zu hatte auch meine Mutter mitgeholfen und auf dem Feld Unkraut gejätet. Ab 12 Jahren hatte Sie auch in der Kolchose angefangen zu arbeiten. Das Schlimmste kam später, da sie kein Wort Russisch sprechen konnten, wurden deportierten Kinder als Faschisten beschimpft und schlecht behandelt. Der Opa Johann wurde in die Trudarmee nach Baschkirien verschleppt, um Bäume zu fällen. Oma blieb unter Fremden mit vier Kindern. Sie mussten Hunger erleiden. Sie tauschten die letzten Sachen für ein Stück Brotaus. Sie sammelten Kartoffelschalen und kochten darauf etwas zu Essen. Meine Oma und meine Mutter mussten sich jeden Tag bei der Kommandantur melden, dass sie anwesend waren. Sie wurden im Dorf miserabel behandelt und nur als Deutsche/ Faschisten gesehen, obwohl sie nichts mit dem Krieg zu tun hatten. Durch die harte Arbeit und den Fleiß, haben sie trotzdem alles erreicht. Nach dem Krieg hatten sie sich eine eigene Unterkunft (Erdhütte) gebaut und Vieh angeschafft. Meine Mutter arbeitete im Sommer in der Kolchose als Köchin und bereitete für die Traktoristen auf dem Feld das Mittagsessen vor. Hinzu kam die Arbeit auf dem Kornspeicher, wo der Weizen der Kolchose zusammengelagert und verarbeitet wurde.
1951 heiratete meine Mutter meinen Vater, Johann Michaelis. Die Frischverheirateten hatten für sich ein Haus aus ungebrannten Lehmziegeln und Schilfrohr gebaut und auf mit Stroh gefüllten Matratzen geschlafen. Die Böden des Hauses hatten keine Holzdielen, zum Saubermachen kehrte man den Boden und befeuchtete die Erde. Das erste Kind der jungen Eheleute hatte nicht lange gelebt und war verstorben. Kurz danach war auch plötzlich die Oma Paulina gestorben. 1953 wurde mein Bruder Alexander geboren und 1954 kam ich auf die Welt. Doch das Unglück verfolgte die Familie meiner Mutter weiter: in den 60er Jahren starben in relativ kurzer Zeit zwei ihrer Schwestern: eine an Krankheit, die andere durch einen Unfall. Das alles hat meine Mutter sehr mitgenommen und sie wurde zuckerkrank. Mit 33 Jahren ergrauten ihre Haare völlig.
Als die Kommandantur aufgehoben wurde, hatten sich meine Eltern (aus gesundheitlichen Gründen) entschieden nach Kirgisistan umzuziehen, weil das Klima dort milder war und viel Obst und Gemüse wuchs. Dort angekommen, mussten sie mit mir und meinem Bruder wieder von vorne anfangen. Sie kauften ein altes Haus und eine Kuh (das Geld mussten sie bei einer Tante leihen). Wieder harte Arbeit und wieder ein neues Haus gebaut, diesmal aus Betonblöcken, alles im Haus angeschafft, neue Möbel, Teppiche und anderen Sachen.
Meine Mutter hatte sehr gut gestickt und abends unter schlechtem Licht von Lampen hatte sie Tischdecken, Kopfkissen, Bettüberwürfe verschönert. Die ganze Familie hatte sie mit Socken und Handschuhen versorgt, selbst gesponnen und gestrickt. Auch Kochen und Backen konnte meine Mutter sehr gut. Sie hatte „Krebli“ und „Riwelkuchen“ gebacken, Strudel mit Sauerkraut gekocht. Kartoffel mit Klößen aus Teig war das Lieblingsessen meines Onkels, Reingold Michaelis, der nach dem dreijährigen Militärdienst bis zur Heirat unter einem Dach mit meinen Eltern lebte.
Ich musste als Kind auch hart anpacken. Da meine Mutter oft krank war, hatte ich schon mit 12 Jahren das Haus gestrichen und im Haushalt mitgearbeitet: geputzt, im Garten und in der Küche geholfen. In Kirgisistan hatten wir zweimal im Jahr Kartoffeln geerntet, die erste Ernte wurde verkauft und die zweite für uns zum Winter im Keller aufbewahrt. Wir hatten auch Knoblauch gepflanzt und meine Mutter hatte ihn nach Kasachstan mit dem Zug gefahren und verkauft. Nach Sibirien hatte sie Äpfel transportiert und so hatten wir schnell unsere Schulden abbezahlt. Wir hatten von 8 bis 10 Stunden in staatlichen Betrieben gearbeitet und trotzdem zu Hause im Garten alles gehabt. Man könnte also sagen, dass wir Zuhause unsere „zweite Schicht“ hatten. Wir haben Gurken, Tomaten eingelegt, Äpfel zu Apfelmus oder Marmelade verarbeitet. Die Enten, Hühner, Schweine wurden geschlachtet und das Fleisch in Gläsern eingekocht.
Ich hatte gelernt und später studiert. Ich bin Ingenieurin für Melioration geworden und hatte einen guten Beruf. Mein Bruder Alexander und ich haben jeweils geheiratet. Jeder hatte seine eigene Familie. Da hatte ich angefangen ein Haus zu bauen. Als ich mit dem Bau fertig war und alles für das Haus angeschafft hatte, heiratete meine älteste Tochter und kaufte ebenfalls ein altes Haus, das wir gemeinsam umbauten.
1993 reiste unsere Familie nach Deutschland aus. Die Zuckerkrankheit meiner Mutter verschlimmerte sich nach einiger Zeit. 1997 wurde ihr ein Bein amputiert, sie wurde zusammen mit meinem Vater von mir gepflegt. Im November 2002 starb meine Mutter.
Paulina Micheilis
mit Fotos von Vater Johann und Mutter Emilia
Tauschen Sie sich über den Beitrag aus.