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Irene Alles

Irene Fröhlich, geb. Alles

Geschrieben von Marianna Neumann aus Langenhagen am .

Ein Brief an ihre Enkelin Lillian zu ihrem 18. Geburtstag:


Irene Alles
Irene Fröhlich, geb. Alles

Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Brandenburg

Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Ural, Stadt Asbest

„Du bist nun volljährig und sollst wissen, von wo deine Vorfahren abstammen. Sicher wird es dich zurzeit noch nicht interessieren, aber wenn du einmal älter bist, wirst du es bestimmt wissen wollen. Deshalb bewahre dieses Schreiben mit deinen Fotos gut auf.

Dein Urgroßvater meinerseits (Oma Irene Fröhlich, geb. Alles), Ernst Alles, wurde 1898 in Eigenfeld, Kreis Nikolaew in der Ukraine/ehem. Russisches Reich, geboren. Deine Urgroßmutter Mathilde Alles, geb. Gerock, wurde 1902 in Mühlhausen, ebenfalls im Kreis Nikolajew gelegen, geboren. Beide waren evangelisch.

Ihre Vorfahren stammten aus dem Schwabenland, im heutigen Baden-Württemberg, und wanderten im Jahre 1810 aus.

Dein Urgroßvater väterlicherseits, Johannes Fröhlich, wurde 1904 in Raststadt, Kreis Odessa in der Ukraine, geboren. Deine Urgroßmutter Anna Fröhlich, geb. Kühlwein, wurde 1908 ebenfalls in Raststadt geboren. Beide waren katholisch.

Die Vorfahren von Opa Arkadis wanderten 1818 aus Dümmersheim bei Raststadt, Deutschland, aus.

In den Dörfern der Ukraine betrieben unsere Vorfahren bis 1929 Landwirtschaft. Danach wurden alle Bauern enteignet und Kolchosen gegründet, in denen alle arbeitsfähigen Leute dann gemeinsam das Land bearbeiteten. Dieses gehörte von nun an dem Staat. Zwischen 1936 und 1939 kam es in der Sowjetunion zu der sog. ‚Großen Säuberung‘, im Zuge derer viele Menschen in Gefängnisse gesteckt und dort – schuldlos und ohne Gerichtsverfahren – zu Tode gequält oder erschossen wurden. Es existieren keine genauen Zahlen. Schätzungsweise wurden bis zu 16 Millionen Menschen unschuldig zum Opfer des stalinistischen Terrorregimes.

Dein Urgroßvater Ernst war auch unter den Opfern – er kam nie wieder zurück. Dein Urgroßvater Johannes hat sich aufgehängt, bevor sie ihn holen konnten. Dein Opa Arkadi wurde deshalb mit drei Jahren und ich mit fünf Jahren zum Halbwaisen.

Ich war die Jüngste von vier Kindern. Unsere Mutter (Mathilde Alles) musste uns nun alleine durchfüttern. Es gab keinerlei Unterstützung. Wir waren nicht nur hungrig, es gab auch keine Kleidung zu kaufen. 1941 folgte der Angriff des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion. Von Juli 1941 bis 1943 standen deutsche Truppen in unseren Dörfern in der Ukraine. Dann haben die Russen die Deutschen zurückgeschlagen. Mit dem Rückzug der Wehrmacht flohen auch viele Deutschen nach Westen. So mussten unsere Mütter, also deine Urgroßmütter, das Allernötigste packen und die Fahrt ging zuerst nach Weißrussland (grenzt an Polen). Dort blieben wir für drei Monate, aber die Front rückte immer näher. Es blieb nur wenig Zeit zum Packen, umgehend folgte die Flucht nach Polen. Hier konnten wir ein Jahr bleiben. Hektisch ging es weiter, jetzt nach Deutschland. Im Januar 1945 erreichten wir Brandenburg. Die Rote Armee holte uns auch hier ein. Im Mai 1945 war der Krieg zu Ende.

Aber für uns Sowjet-Deutsche ging das Elend, der Hunger und die Erniedrigung erst richtig los. Uns hat man ausgeliefert. Und im September desselben Jahres wurden wir nach Brandenburg gebracht. Dort wurde ein großes Lager eingerichtet, ringsherum mit Stacheldraht und Hochsitzen versehen. Nun waren wir eingesperrt. Ich war 13 Jahre alt. Kurz vor Weihnachten 1945 wurden wir in Waggons Richtung Osten abtransportiert. In Brest-Litowsk, das an der damaligen polnisch-sowjetischen Grenze lag, mussten wir alle aus den Waggons raus, weil die Schienen nach Russland breiter sind. Dort verharrten wir drei Tage in der Kälte. Es war Januar und regnete und schneite ununterbrochen. Wir, Faschisten – so hat man uns geschimpft –, waren nur leicht bekleidet und hatten kaum noch Gepäck, weil wir doch immer wieder flüchten mussten. Von warmen Essen konnte keine Rede sein. Ein Stückchen trockenes Brot, was wir noch hatten, wurde sorgfältig aufgeteilt. Kaufen konnten wir auch nichts. Erstens hatten wir kein russisches Geld, zweitens gab es Nichts zu kaufen. Nach drei Tagen wurden wir wieder, jetzt in dreckigen Viehwaggons verladen. Die Waggons waren total überfüllt. Uns Kinder hat man auf unseren Halbseligkeiten Platz zum Schlafen gemacht. Unsere Mütter aber, konnten nur sitzen oder stehen. Es war sehr eng. Keiner wusste, wohin es geht. Am 11. Januar 1946 kamen wir in der Stadt Asbest, Kreis Swerdlowsk (heute Jekatherinenburg) in Ural/Russland, an. Dort gab es nur Asbestgruben, Asbestfabriken und Waldarbeit. Zusammen mit den Kriegsgefangenen, die schon fast alle verhungert waren, sperrte man uns wieder in ein Lager. Nach ein paar Tagen wurden die Kriegsgefangenen in ein anderes Lager gebracht und wir mussten in dem Lager zehn Jahre – bis 1956 – ausharren. In Barracken mit ihren 12 bis 14 m² kleinen Zimmern bekam eine große Familie ein Zimmer für sich.

Wir waren am Anfang drei Familien in einem 12 m² Zimmer. Erst nach zwei Jahren erhielten wir, meine Mutter, mein Bruder Harry und ich, ein Zimmer für uns allein. Die Müttergeneration, aber auch die Kinder, war lebenslänglich verurteilt worden. Außer unseren Familien waren noch 100 000 Sowjet-Deutsche genauso übel dran. Alle Arbeitsfähigen wurden zur Arbeit eingeteilt und mussten täglich 12 bis 16 Stunden arbeiten. Wir Kinder führten den Haushalt. Dein Opa Arkadi ging schon mit 12 Jahren arbeiten, ich mit 14 Jahren. Mit 15 Jahren habe ich schon in einer Asbest-Grube gearbeitet. Hinzukam, dass wir immer hungrig waren. Viele Menschen sind verhungert oder erfroren. Wir waren die Vaterlandsverräter und Faschisten, obwohl wir keine Ahnung von Verrat und Faschismus hatten. Aus dieser Erzählung, liebe Lillian, hast du auch eine Erklärung, wo unsere Schulbildung geblieben ist. Drei Jahre nach Stalins Tod kamen wir im Jahr 1956 endlich frei.

1957 haben Arkadi und ich geheiratet, da war dein Opa 21 und ich 24 Jahre alt. Wir alle wollten endlich aus den verdammten Barracken raus. Denn obwohl wir jetzt frei waren, durften wir in unseren Geburtsort, in die Ukraine, nie wieder zurück. Und da, wo wir waren, eine Wohnung zu finden, war unmöglich. Deshalb sind wir (dein Opa und ich) nach Kasachstan umgezogen. Vom Regen in die Traufe. In Kasachstan wurde deine Mama geboren. Und weil es mir da in dem Dorf gar nicht gefiel, sind wir von dort nach Moldawien an die Rumänische Grenze umgezogen. Deine Mama, Marianna war da gerade ein Jahr alt. In Moldawien wurde Helmut geboren. Als Marianne vier Jahre alt war, sind wir wieder nach Kasachstan, in die Stadt Karaganda, umgezogen. Dort war es sehr kalt, bis zu -45 °C, und es stürmte unheimlich stark. Aber man konnte hier besser Geld verdienen und es gab mehr Lebensmittel. In Karaganda waren Marianna und Helmut oft mit dem Schlitten, auf Schlittschuhen oder Skiern unterwegs. Sie kannten nichts anderes und fühlten sich hier wohl.

Weil wir immer wieder Anträge stellten, um nach Deutschland auszuwandern, war der Staatssicherheitsdienst hinter uns her. Deshalb sind wir noch zwei Mal umgezogen. Zuerst in den Kaukasus, in die Stadt Prochladnoje, danach wieder nach Moldawien, in die Stadt Kauschany. Dort haben wir auch endlich die Ausreisegenehmigung bekommen. Am 25. Mai 1976 kamen wir in Friedland im Durchgangslager an. Nun sind wir genau da, wonach wir die ganzen Jahre Sehnsucht hatten, nämlich in Deutschland. Wir sind heimgekommen, in unsere richtige Heimat.

Liebe Lillian, wir möchten dich bitten, wenn du einmal eine eigene Familie hast und es irgendwie möglich ist, tu deinen Kindern nicht das an, was wir unseren Kindern angetan haben, nämlich von einem Ort zum anderen zu ziehen oder gar daran zu denken, aus Deutschland auszuwandern, so wie es unsere Vorfahren gemacht haben. Wenn es auch noch so schwer in Deutschland werden wird, in einem anderen Land ist und bleibt man ein Fremder. Unsere Vorfahren und wir, die Nachkommen, waren weit über 200 Jahre in einem fremden Land und es blieb unser Stiefvaterland.

Deine Oma und Opa Fröhlich zum 18. Geburtstag

Hebe es gut auf“




Marianna Neumann

Tochter von Irene Fröhlich, geb. Alles

Marianna Neumann




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