Nelly Nathalie Charlotte Rothenberger (*1934)
Aus dem Tagebuch von Nelly Wagenaar, geb. Rothenberger:
Nelly Nathalie Charlotte Rothenberger
Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Freudental
Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Dörpen
Heute will ich versuchen, etwas von meinem Leben zu erzählen. Ich habe, in Gedanken, schon oft alles aufgeschrieben, aber leider nur in Gedanken. Ob es jemals jemand lesen wird, ist auch noch die Frage. Wer hat schon was davon und vor allem: wer hat die Zeit dazu?
Vieles gerät in Vergessenheit und ich will versuchen, der Reihe nach zu erzählen. Je älter man wird, je mehr man an die Vergangenheit denkt, vor allem wenn man nachts viel wach ist. So verfalle ich oft in Selbstmitleid, wenn ich die kleine Nelly sehe und verfolge; es war schon sehr schlimm!
Heute geht es mir so gut, aber leichte Ängste habe ich immer wieder vor der Zukunft. Ich bin sehr vom Wetter abhängig und vermeide es, Bernd zu erzählen was ich fühle. Er kennt kein Heimweh und versteht es nicht, wenn ich es mal erwähne. Er sagt dann: „Du bist nicht in Deutschland geboren, wie kannst du Heimweh haben?“ Tja, es liegt wohl daran, dass ich mich einfach nach Menschen sehne, die ich in der Kindheit auch entbehren musste. Ich war überall und nirgends zu Hause.
Nelly
Meine Mutter wurde 1934 in Freudental, Ukraine, Kreis Odessa geboren. Als ihr Vater, Eduard Rothenberger, mit seinem Charme und Humor das Herz der reichen Barbara Neher, ihrer Mutter, für sich gewonnen hatte, wurde er erstmal von Barbaras Stiefvater mit der Mistgabel vom Hof gejagt. Barbara sollte ja den gut betuchten Christian Essig, den Schwager ihres Bruders Johann und Bruder dessen Frau Amalia heiraten. Es gefiel dem Christian jedoch gar nicht, seine ersehnte Verlobungskandidatin auf dem Schoβ seines Rivalen zu ertappen.
Als die Reichen Anfang der Dreißigerjahre enteignet wurden und zum Teil verbannt wurden, bedeutete das für viele Familien eine Trennung. So auch bei den Nehers: Johann Neher, der Onkel meiner Mutter, geriet mit seiner Familie nach Sibirien. Barbara ging mit ihren Eltern nach Odessa.
Der immer fröhliche Schelm Eduard bereitete die Hochzeit in Freudental vor und holte sich seine geliebte Barbara. Die beiden bekamen drei Kinder; 1933 wurde Bruno geboren, der leider schon als Baby starb. Am 15. Mai 1934 wurde Nelly, meine Mutter, geboren. Möglicherweise war es der 5.: da später, aus Angst vor den Russen, alle Papiere verbrannt wurden und Nellys Eltern nicht mehr lebten, wusste man nicht mehr so genau welches Datum richtig war. Das dritte Kind, Eduard, kam im Februar 1937.
In Freudental herrschte große Hungersnot und als die Unruhen zunahmen, zog die Familie in den Kaukasus. Eduard wurde des Öfteren verfolgt und verhaftet. Im Gefängnis schliefen die Häftlinge bei Tieffrost auf den Zementböden, was dazu führte, dass Eduard Knochenfraß bekam und entsetzliche Schmerzen erlitt. 1936 kam er ins Krankenhaus und wusste, dass er sterben würde. Meine Mutter erinnert sich noch, wie sie ihren Vater zum letzten Mal besuchte: sie kamen in ein großes helles Haus und an einem Treppenaufgang hing eine große Ikone mit viel Gold und Silberglitzern. Ihre Mutter führte sie ins Krankenzimmer zu ihrem Vater. Er lächelte, wollte sie hochheben, aber seine Kraft reichte nicht mehr aus. Also streichelte er sie und sagte: “Mei großes Mädle, sei scheen brav.”
Ihre Mutter war damals schwanger von dem dritten Kind, Eduard. Am 17. Januar 1937 ist ihr Vater gestorben; im Februar wurde Edik geboren. Ihre Großeltern, die aus Freudental nachgekommen waren, passten auf die Kinder auf, während Barbara zuerst im Reisfeld, später im Kindergarten arbeitete.
Nahrungsmangel und Unterernährung führten überall zu großen Leiden, vor allem unter Kindern. Als der kleine Edik zwei Jahre alt war, wurde er krank. Auch bei meiner Mutter machten sich Anzeichen von Mangelernährung bemerkbar: sie litt an Noma. Ihre Zähne fielen aus und sie hatte viel Kopfschmerzen. Sie erinnert sich, wie sie und ihr Bruder in einem Bollerwagen vom einen Arzt zum anderen gebracht wurden. Edik starb und sie wurde sehr krank. Die linke Wange war ganz offen und wenn sie aß oder trank, lief es aus der Wange heraus. Die Ärzte hatten sie aufgegeben und ihre arme Mutter hatte schreckliche Angst sie zu verlieren; sie hatte ja schon so viel verloren. Ein Pulver, das eine Russin ihrer Tante verabreicht hatte, brachte Erlösung: ihre Wange wurde damit behandelt. Es schmerzte fürchterlich, doch mit wiederholten Behandlungen zog sich nach einiger Zeit die Wange wieder zusammen, nur eine kleine Öffnung an der Nase blieb. Als sie sechs Jahre alt war, wurde ihr operativ Zahnfleisch eingesetzt. Eine Narbe ist immer geblieben, sie hat aber mit unvorstellbarer Kraft alles durchstanden, trotz Unterernährung.
Im Frühjahr 1940 fuhr sie mit ihrer Mutter Barbara zurück in die Ukraine. Es war eine lange Reise und sie wurde sehr verwöhnt von den Fahrgästen, die, wie sie meint, wohl Mitleid hatten, weil sie die große Narbe im Gesicht hatte und ihre Mutter krank war.
Es ging der Barbara immer schlechter; vermutlich hatte sie Magenkrebs. Als ihre Schwägerin, bei der sie und meine Mutter wohnten, sie rausgeworfen hatte, brach sie auf der Straße zusammen. Ein Fremder brachte sie ins Krankenhaus. Barbara wurde im Krankenhaus in Odessa gepflegt, während meine Mutter Nelly in Freudental war. Zweimal durfte sie mit nach Odessa, ihre Mutter besuchen. Sie erinnert sich ihre dünnen, zerbrechlichen Arme, als sie sie nur von draußen sehen konnte. Barbara starb im August 1941, als die Front nahe Odessa war. Meine Mutter wohnte bei ihrem Großvater und Barbaras Stiefbruder und Frau, die sie kaum beachteten. Im September oder Oktober 1941 kam Onkel Johann Neher, Barbaras Bruder aus Perwomaisk, um sie zu holen. Es gab Hungersnot in Freudental und Nehers waren wohlhabend. Ihr Großvater meinte zwar, er solle sie da lassen, weil meine Mutter sich an alle gewöhnt hatte. Onkel Johann aber fühlte sich verantwortlich für das Kind seiner Schwester, und nahm meine Mutter mit.
In Perwomaisk bekam sie gutes Essen und wurde mehr oder weniger geduldet. Wenn Gäste kamen, durfte sie jedoch nicht am Tisch sitzen; ihre Narbe war hässlich und das Loch unter der Nase war noch nicht geheilt - manchmal kam ein wenig Spucke heraus. Soldaten, die auch im Haus waren, sahen, wie sie behandelt wurde und brachten ihr öfter etwas mit als sie von Deutschland aus dem Urlaub kamen. Sie schlief auf dem Sofa und später in der Küche, bekam oft Strafe für die kleinsten Sachen. Nach der Schule musste gearbeitet werden: Unkraut jäten und den Gänsestall ausmisten – wer nicht arbeitet braucht auch nicht zu essen. Ab und zu half ihr ein Ukrainer aus Mitleid. Sie ging öfter zu Ukrainern, die sehr lieb zu ihr waren. Anders als die deutschen Soldaten, die, wenn sie zur Front mussten, sich betranken und für ein kleines Mädchen, das in der Küchennische schlafen musste, beängstigend waren. Beinahe hätte sich einer an sie vergriffen. Viele wurden von den eigenen Landsleuten bestohlen. Die Angst war groß, auch unter den Erwachsenen, die selber viel zu bewältigen hatten.
Der Krieg dauerte und auch in Perwomaisk kam es im Mai 1944 zum Aufbruch. Es wurden Gänse und Schweine geschlachtet, geräuchert und vieles in Fett eingelegt. Durch die guten Beziehungen und den guten Ruf (Tante Amalia hatte oft Kuchen gebacken für die Verwundeten) bekamen Nehers einen Vieh-Wagon für sich. Sie waren mit neun Personen. Viele Kisten und Fässer wurden verladen. Der Zug fuhr nach Soldau in Ostpreußen, wo sie in ein Lager kamen.
Onkel Johann bekam als Verwalter auf Gut Muscheln bei Bromberg Arbeit und so kamen sie im August dorthin. Hilde, die Tochter von Johann und Amalia, musste zurück nach Soldau, ins Landmädelheim.
Am 21.1. 1945 mussten sie flüchten. Die Straßen waren verstopft, so dass die Fahrt von Bromberg nach Nakel (nur 30 Km), die ganze Nacht dauerte. Alle Wagen fuhren hintereinander, damit gegenseitig Hilfe geboten werden konnte. An einer Kreuzung fuhr der Kutscher des Wagens, auf dem meine Mutter und Tante Amalia saßen, ohne Weiteres nach rechts und trennte sich so von den anderen, die später auch nicht mehr zurückgefunden wurden. Sie kamen in Schiefelbein an und blieben dort zwei Monate stecken; danach ging die Flucht weiter.
Als sie am 21.3. 1945 auf dem Wege waren, überrollten die Russen sie im Wald vor Kolberg. Tante Amalia verbrannte alle Papiere, aus Angst vor Sibirien und verbot meiner Mutter Russisch zu sprechen. Die russischen Panzer näherten sich und meine Mutter und Tante Amalia standen auf der Straßenseite, neben einem großen Leiterwagen, vor dem drei Ochsen gespannt waren. Die Panzer rollten an sie vorbei und schossen in den Wald, wo noch Soldaten waren. Die Panzer fuhren dann und wann auf die Pferdewagen zu. Auch der Wagen, neben dem meine Mutter und Tante Amalia standen, wurde getroffen. Sie wurden in die Luft geschleudert; meine Mutter Nelly landete auf den Wagentrümmern und die Tante wurde in den Graben geschleudert. Die Ochsen überlebten nicht, aber meine Mutter und Tante Amalia hatten nur kleine Verletzungen.
Der Kutscher war verschwunden und es ging zu Fuß nach Golz bei Dramburg in Pommern.
In Golz, einem kleinen Dorf, wohnten sie mit anderen Flüchtlingen auf einem Gut.
Die Kommandantur verordnete, dass die Erwachsenen arbeiten mussten. Die Kinder strolchten durch die Gegend. Meine Mutter wurde elf Jahre. Zusammen mit anderen Mädchen pflegte sie die Kranken, was bei offenem TBC, Furunkulose und Typhus nicht ungefährlich war. Viele starben, so auch manche Freundin meiner Mutter, die sie gepflegt hatte.
Als ein Transport in den Westen ging und auch meine Mutter und die Tante mitfahren durften, wurde die Tante überredet zu bleiben, was sie nachher sehr bereute.
Meine Mutter wurde zwölf Jahre alt und suchte sich in Dramburg eine Arbeit in einem Hotel als Kindermädchen. Golz und Dramburg waren unter Russischer Verwaltung.
Im Juni oder Juli 1947 ging wieder ein Transport über die Oder. Meine Mutter und Tante Amalia hatten inzwischen, nach dem ersten Transport, Post aus Greifswald bekommen: Mutters Kusine Hilde schrieb, dass sie im September wieder ‚heimfuhren‘; also nach Sibirien mussten. Tante Amalia war untröstlich und bereute abermals, dass sie nicht mit dem ersten Transport mitgefahren war. Ihr Mann und ihre Tochter würden für lange Zeit von ihr getrennt.
Der Transport fuhr ab. Die Viehwagen waren voll und unbequem; man lag am Boden und nur dann und wann durfte man aussteigen um hinter die Sträucher zu gehen und um Essen zu betteln. Waschen konnte man sich nicht. Nach einer langen Reise kam der Transport in Fröttstädt in Thüringen an, wo man wieder unter den Russen war. Tante Amalia ließ meine Mutter einige Adressen auswendig lernen, von Verwandten und Bekannten in Helmstedt und Hasenkrug. Gewohnt haben meine Mutter und die Tante bei einer lieben Familie, wo es genügend zu essen gab. Meine Mutter ging wieder zur Schule.
Am 20. 5. 1948 sind die Tante und meine Mutter unter Begleitung von zwei Bekannten schwarz über die Grenze gegangen. Durch Sümpfe und Wälder rückend kamen sie morgens früh auf englischen Boden an und gerieten nach Helmstedt, zu des anderen Essigs. Deren Wohnung war klein und knapp und da es für die nicht registrierte Tante und ebenfalls nicht polizeilich angemeldete Nelly keine Lebensmittelkarten gab, konnten beide nur kurz bleiben und fuhren nach Hasenkrug, zu der Familie Herrmann. Martha Herrmann, eine Tante meiner Mutter, veranlasste, dass die beiden ins Lager in Ülzen kamen, damit sie registriert werden konnten und Lebensmittelkarten bekamen. Aus Angst vor einer möglichen Auslieferung an die Russen gab Tante Amalia als Geburtsort Ackermann in Bessarabien an. Nicht ohne Grund: bis 1955 wurden noch Russlanddeutsche an die Russen ausgeliefert. Erst 1957 hat meine Mutter ihren Pass ändern lassen. Auf ihren Zeugnissen und ihrem Diplom steht immer noch der Geburtsort Bessarabien.
Nach einigen Wochen ging es weiter nach Aschendorf im Emsland und von dort nach Dörpen.
Meine Mutter konnte endlich wieder zur Schule. Der Vorsitzende vom Flüchtlingsverein ging mit ihr zum Schreibwarenhändler und kaufte Hefte und Bleistifte, die Hälfte bezahlte er, die andere Hälfte der Inhaber Albers.
Sie durchlief die Klassen ziemlich schnell und wurde mit 15 Jahren mit einem guten Zeugnis aus der achten Klasse entlassen. Dass ihr Lehrer bei Tante Amalia darauf gedrungen hatte, sie nach Papenburg ins Gymnasium zu schicken, wusste sie nicht. Dass sie älter war als die anderen Schüler, wäre kriegsbedingt und würde kein Hindernis sein. Leider war die Tante der Meinung, sie könne einen Beruf lernen. Gern hätte meine Mutter, die als Vollwaise die Ausbildung bezahlt bekommen hätte, Kinderärztin geworden. Das klappte nicht; am 1. 4. 1952 aber zog sie ins Mutterhaus in Kaiserswerth und wurde Säuglingsschwester.
Ihr ereignisreiches Leben mit schweren Tiefen und glücklichen Höhen hat sie zu der kräftigen, weisen Frau gemacht, die sie heute immer noch ist. In ihrer schicksalhaften Kindheit, in der sie Elternliebe und Wärme entbehren musste, hat sie nicht nur die Kälte und Abweisung ihrer verbitterten Tante Amalia gespürt oder die von Fremden, aufgrund ihrer Narbe oder ihrer Herkunft, sondern gab es immer wieder auch die Engelchen; die Menschen in ihrem Leben, die es gut mit ihr meinten und immer zum rechten Zeitpunkt da waren, wie ein guter und lieber Gatte, ihre Verwandten aus Deutschland und Russland, ihre Freunde und Freundinnen und viele mehr. Ihr Heim ist jetzt hier, in Deventer. Jedoch Deutsche – Russlanddeutsche – bleibt sie in ihrem Herzen immer.
Leonie Wagenaar
Tochter von Nelly Wagenaar, geb. Rothenberger
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