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Paulina Michaelis (*1954)

Paulina Michaelis

Geschrieben von Irina Schkurin aus Stadthagen am .

Meine Mutter Paulina Michaelis wurde 1954 in dem kleinem Dorf Michajlowka (Burla Region), Sibirien geboren, wohin die Familie ihrer Mutter 1941 deportiert wurde. Sie ist zusammen mit ihrem 1,5 Jahre älteren Bruder Alexander aufgewachsen. Da die Eltern Emilia und Johann die meiste Tageszeit bei der Arbeit in der Kolchose waren, sind sie oft zu Hause allein gewesen und haben einiges angestellt.


Paulina Michaelis (*1954) mit Puppe
Paulina Michaelis (*1954)

Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Dorf Michajlowka Region Burla, Altaj Region

Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Dorf Michajlowka Region Burla, Altaj Region


Paulina Michaelis (*1954) mit 22 Jahren

Paulinas Eltern, meine Großeltern, hatten im Krieg und in der Nachkriegszeit schwere Zeiten erlebt. Jedoch ging es den Menschen in dieser Region ab 1954, mit der Erschließung des sogenannten Neulandes in Sibirien, allmählich besser. Außerdem bekamen die Kinder von den Problemen der Erwachsenen nur selten etwas mit. Deswegen unterstreicht meine Mutter in ihren Erzählungen immer, dass es auch gute Zeiten in ihrer Kindheit gab.

Da es in Sibirien sehr kalte und schneereiche Winter gibt, waren die Erdhütten, in denen die meisten Deutschen zu der Zeit wohnten, komplett mit Schnee bedeckt: es wurden Tunnel gegraben, damit man aus der Tür rauskommen konnte. In diesen Tunneln hatte meine Mutter gerne mit anderen Kindern gespielt, denn darin spürte man den kalten Wind nicht.

Meine Mutter spielte viel mit den Haustieren, den Katzen und Hunden und die kleinen Nutztieren wie Kälber, Ferkel, Lämmer und Küken im Stall und versorgte diese auf dem Hof mit Grass und Futter.

Die Schulaufgaben haben die Geschwister im Halbdunkel gemacht. Da es noch kein Strom im Dorf gab, wurden Petroleumlampen benutzt. Opa Iwan half meiner Mutter oft in Mathe, er konnte gut rechnen und malen, am liebsten Pferde.

Zu den eindrucksvollsten Erinnerungen meiner Mutter gehört der Kauf eines Radios mit integriertem Schallplattenspieler im Jahr 1964. Jetzt konnte man zuhause Nachrichten und Musik hören, da hörte Paulina das erste Mal Lieblingslieder ihrer Mutter Emilia «Ой, рябина кудрявая», „Называют меня некрасивою». Der erste Fernseher (Schwarz-Weiß) wurde erst 1971 gekauft, als meine Mutter die 9. Klasse beendet hatte.

Die erste gekaufte Puppe bekam meine Mutter mit 7 Jahren, die hatte Oma Emilia aus Barnaul nach ihrem Aufenthalt im Krankenhaus mitgebracht und Opa Iwan hatte für das Püppchen ein Bett aus Holz gezimmert. Bis dahin bastelte meine Mutter sich aus alten Lappen selbst die Puppen. Diese einzige Puppe musste meine Mutter zurücklassen als sie 1965 nach Kirgistan umgezogen. Andere Spielzeuge gab es gar nicht. Deswegen haben die Kinder bunte Glas- und Porzellanscherben gesammelt, Bonbonpapier („Fantiki“), Postkarten, Gerbarien aus Baumblättern ausgetauscht und damit gespielt.

Oma Emilia war oft krank und als die Kommandantur aufgehoben wurde, entschieden die Eltern den Ort wegen eines besseren Klimas zu verlassen und zogen nach Kirgistan.

In der Schule in Kirgistan wurde meine Mutter von ihrem Lehrer oft gelobt, ihre Hefte wurden der ganzen Klasse vorgezeigt, weil sie sehr gut und sauber mit der Tinte schreiben konnte. Sie nahm in diesem Jahr an vielen Veranstaltungen teil. Sie war Pionierin, später Pionierführerin und zusammen mit anderen Kindern sammelte sie Altpapier und Altmetall für die Industrie. Auch in der Kolchose halfen die Pioniere mit: auf den Feldern wurden Rüben geerntet und Unkraut gejätet, im Herbst Tomaten und Äpfel gesammelt. Außerdem sang sie in einer Schulband und im Chor auf den Schulkonzerten mit. In der Schule lernte meine Mutter Englisch, das hat ihr zusammen mit Mathe auch am meisten Spaß gemacht und ihr Traum war es, Übersetzerin zu werden.

Kurz nach der Beendigung der 10 Klassen heiratete meine Mutter und nach einem Jahr wurde ich geboren. Weitergearbeitet und studiert hat sie in dieser Zeit trotzdem. Oma und Opa haben meine Mutter oft unterstütz und auf mich aufgepasst.

Nach dem Studium arbeitete meine Mutter Jahrelang als Ingenieurin für Hydrotechnik. Sie war zuständig für die Wasserversorgung der Kolchosen in der Region. Als Frau hatte sie es nicht immer leicht in einem männerdominierten Beruf. Auch als geschiedene Frau in einem islamgeprägten Umfeld musste sie sich oft durchsetzen. Sie liebte ihre Arbeit und erhielt oft Prämien. Außer Geldprämien gab es damals auch Wertprämien: einen persischen Teppich oder ein Grundstück für den Bau des Hauses. Neben ihrer Arbeit hat Mama die ganzen Jahre für uns, Kinder, immer Sachen gestrickt, genäht und gehäkelt. Aus ihr wäre sicher eine gute Designerin geworden. Sie entwickelte dabei immer ihren eigenen Still : solche Kleider, Westen, Pullis, Hütchen und Röcke, die sie uns gemacht hat, hatte sonst niemand. Das sparte Geld und die Bewunderung unserer Mitschüler war uns sicher. Ende der 70er Jahre sind wir oft mit unserer Mutter zum Issyk Kul-See in den Urlaub gefahren.

Später hat meine Mutter ein Zweites Mal geheiratet und ich bekam eine Schwester, die 9 Jahre jünger ist als ich war. Als nächstes stand der Bau eines Hauses an. Für den Bau des Hauses haben meine Eltern zwei Darlehn aufgenommen: für Baumaterial, Heizungsanlage, Gasofen und Möbeln. Das Haus hatte zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche, ein Esszimmer und einen Flur mit einer Kellertreppe. Im Keller hatten wir unsere Einmachgläser und Lebensmittel, sowie Obst und Gemüse aufbewahrt. Die ganze Arbeit wurde von meinen Eltern selbst gemacht. Die Wände gemauert, Wände geputzt, gestrichen und tapeziert. Meine Mutter hat bei allem angepackt, selbst die Gardinen hat sie selbst genäht. Alles im Haus wurde neu angeschafft: Möbel, Elektrogeräte, Küche etc. So haben wir ein neues Zuhause gebaut.

Dann habe ich geheiratet und bekam mein erstes Kind, Sohn Stani. Auch wir haben ein Haus gekauft. Alles im Haus wurde umgebaut, die Eltern haben uns geholfen. Doch kurz danach entschieden wir uns zurück nach Deutschland zu gehen. Im Dezember 1993 reisten wir nach Deutschland aus.

Die erste Zeit in Deutschland war für uns die Hölle. Da wir alle die deutsche Sprache nicht beherrschten, hatten wir sehr große Schwierigkeiten. Unsere deutschsprachigen Großeltern, kannten sich auf Grund ihrer schlechten Bildung in den Kriegsjahren, überhaupt nicht mit Dokumenten aus. Wir durchliefen drei Aufnahmelager ohne jegliche Unterstützung von Verwandten. Die ganze Bürokratie und die Behördengänge hatte meine Mutter auf sich genommen, für alle drei Familien: ihre eigene, ihrer Eltern und meine.

Gleich nach dem Sprachkurs hatte meine Mutter angefangen eine Umschulung zur Industriekauffrau zu machen. Sie musste viel mit dem Wörterbuch arbeiten, bevor sie verstand, um was es überhaupt ging. Aber durch ihren Fleiß und ihre Hartnäckigkeit, bestand sie die Prüfung mit guten Noten. Sie lernte und bildete sich immer weiter, zur Finanzbuchhalterin und sogar Businessenglisch lernte sie. Ich bin stolz auf meine Mutter, weil sie nie aufgegeben hat. Sie arbeitete als einfache Bürokraft, später als Industriekauffrau und dann sogar im Rathaus.

Heute ist sie Rentnerin. Leider ist die Rente so klein, dass sie auf die Unterstützung vom Staat angewiesen ist. Es ist traurig, dass ein Mensch sein ganzes Leben gearbeitet hat und trotzdem keine ausreichende Rente verdienen konnte. Leider ist das das Schicksal von vielen Spätaussiedlern in Deutschland.

Doch meine Mutter lässt sich weiterhin nicht unterkriegen. Sie geht in ihrer Familie und ihren Hobbys auf: sie hat schon unzählige von ihr designten Sachen für uns Kinder und die Enkelkinder gemacht. Auch mit warmen Socken versorgt sie uns regelmäßig.

Meine Mutter kocht und backt sehr gerne. Wenn wir zum Besuch kommen, macht sie ihre berühmten Pirogen mit unterschiedlichen Füllungen, sowie Beljaschi, Pelmeni und Strudel mit Ente und Zwiebeln. Unsere Kinder mögen alles, was sie kocht und backt. Meine Mutter bekocht auch oft ihre deutschen Nachbarn, sie mögen es auch, am liebsten jedoch mögen sie Muttis Borsch. Meine Mutter liest gerne Bücher, sie hat eine große Bibliothek. Die meisten Bücher sind auf Deutsch, mehrbändige Geschichtsromane. In wenigen Tagen liest sie die dicken Schinken über 800 Seiten.

Meine Mutter ist eine sehr liebensvolle und nette Frau, deswegen hat sie sehr viele Freundinnen und Bekannte. Sie pflegt ihre Freundschaften noch aus Kinderzeiten in Sibirien, mit denen sie sich bis jetzt noch trifft und hat mit Vielen von Ihnen einen regen schriftlichen Kontakt.

Hier in Deutschland hat sie auch neue Freundinnen gewonnen, mit denen sie sich jede Woche zur Kaffeerunde oder zum Mittagessen trifft. Sie unterhalten sich und singen russische Lieder und gehen zusammen spazieren. Es freut uns unglaublich, dass sie trotz ihrer gesundheitlichen Probleme noch mit uns in den Urlaub fahren kann und Spaß am Leben hat.




Irina Schkurin

mit ihrer Mutter Paulina Michaelis

Paulina Micheilis




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